Cameras
Sind die Worte "Kamera" und "Kammer" etymologisch heute noch so eng benachbart wie früher oder haben sie sich auseinander gelebt? Früher war das Einfangen von Lichtbildern in kleinen Räumen einmal ein wichtiges Geheimwissen. Da existierte die Camera obscura gleich doppelt: als Apparat, der mittels einer Linse ein Bild der Realität einfing, und als Dunkelkammer, in der ein chemischer Umkehrungsprozess von der Negativ-Darstellung zu einem Bild-Positiv führte. Heute sind die vorherrschenden Digitalkameras film- und negativlos und kommen fast ohne einen eigenen Raum für das Bild aus. Ihr Volumen benötigen sie für die elektronische und optische Ausstattung. Ein weiterer Unterschied betrifft die Räumlichkeit, die Fotos fast immer mittransportieren. Die heute den Benutzern zur Auswahl gestellte Möglichkeit, ob man stehende oder bewegte Bilder aufnehmen möchte, eine nicht nur technische, sondern auch inhaltliche Frage. Wer bewegt sich: der Aufnehmende, der Aufgenommene oder gar das Bild? Dass von einer heutigen Architektur wie der des Bildgasse-Centers in Dornbirn noch immer eine Anmutung von dunkler Kammer ausgeht, hat möglicherweise ebenfalls mit Bildprozessen zu tun. Waren früher möglicherweise die besten Büros hell belichtete größere Räume, so dominieren die Architektur inzwischen oftmals Vorgaben wie die, dass man an Bildschirmen gut und effizient arbeiten können muss. Verspiegelte, dunkle Fassaden erzeugen ihre repräsentative Wirkung dann eher dadurch, dass man trotz aller vom Material Glas signalisierter Transparenz nicht genau weiß, was hinter dieser Fassade geschieht geschweige denn wo. Wenn Matthias Bildstein und Philippe Glatz die Besucher ihrer Aktion vor dem Gebäude erwarten und mit dunklen Taucherbrillen ausstatten, vollziehen diese in mehrfacher Hinsicht eine fast magische Angleichung.
Erfahrungen
Die oben angesprochene freie Auswahl zwischen stehendem und bewegtem Bild ist möglicherweise mehr als nur eine kleine Technologie-Rendite. In immer stärkerem Ausmaß ist das
Bild vom Raum ein dynamisches Bild geworden. Kamerafahrten im Fernsehen verharren selbst bei alten Ölbildern selten länger als zwei Sekunden in der gleichen Position; die Wahrnehmung des
öffentlichen Raums erschließt sich immer häufiger vom fahrbaren Innenraum des Autos oder der Bahn aus: sich einen Raum vorzustellen bedeutet heute meistens, sich in ein bewegtes Bilderlebnis
einzulassen. Die zu künftigen Mitakteuren gewordenen Besucher begeben sich auf eine Reise ins Ungewisse; die Bildgasse als künstlerischer Parcours. Anders als in der Anlage von Jochen Gerz Miami
Islet haben sie keine leere Flasche in der Hand auf dem Weg durchs dunkle Kellergewölbe eines Museums, die eigene Entscheidung ist kein zentraler Punkt der Aktion für die Besucher. Ihnen sind die
Augen auch im übertragenen Sinn für den Aktionsverlauf selbst verbunden; ihre Raumerfahrung ist Vertrauenssache und damit - zumindest teilweise - auf das eigene Vorstellungsvermögen, auf bereits
Erlebtes angewiesen.
Emanzipierte Betrachter
"Der Arbeiterfotograf" hieß eine Zeitschrift (1924-1933), die sich bewusst dem Schaffen einer bestimmten Klientel von Fotoamateuren verschrieben hatte. Unter dem fotografierenden Arbeiter stellte
sich die meist intellektuelle Herausgeberschaft ein ungeheures Reservoir an kreativen Menschen vor. Ähnlich wie bei Brechts lesendem Arbeiter wollte man gerade an der Schwelle zum wichtig
werdenden Massenmedium Fotografie jenes demokratische Potential für Kunst finden, das die hierarchisch verfahrende Kunst und den Anspruch neuer, offenerer Gesellschaften miteinander versöhnte.
Anders als gehofft entwickelte sich zwar eine eingehende Sichtweise auf die sozialen Umstände der Arbeiterschaft, aber kaum eine spezifisch proletarische Fotoästhetik. Die Distanz zu den 72 Shots
von Matthias Bildstein und Philippe Glatz ist nur auf den ersten Blick unendlich. Die beiden Künstler machen ihre Besucher im Bildgasse-Center zu Mitarbeitern, die fotografieren. Dieser
informelle Werkvertrag konstituiert sich durch eine doppelbödige Ungewissheit. Im Glauben, ihre eigene Person zum Gegenstand des Fotos zu machen - ähnlich vielleicht, wie man es von der
Lomografie oder den auf kurze Distanz gemachten Handy-Fotos kennt, nehmen die Teilnehmer an einem Kunstprojekt teil. Als arbeitsteiliger Prozess wird die Aktion jedoch eine ungewohnte Form von
Ausbeutung: im Glauben an eine Form von Service-Art, die ein Bild der eigenen Person erzeugt, arbeiten die Mitspieler an einem Gemeinschaftsporträt der Direktoren dieses Prozesses. Mit dieser
Disposition vollziehen Bildstein und Glatz auch einen entscheidenden Schritt weg vom auratisch aufgeladenen Künstlerhandwerk.
Es ist nicht mehr die Hand des Künstlers, die das Kunstwerk herstellt, und die auslösenden Hände bedienen zudem eine Apparatur, die die Helfer selbst nicht überblicken. Sich mit verbundenen Augen an einen Ort führen zu lassen, um dort einen Knopfdruck-Job zu verrichten: es geht möglicherweise mehr um den Lebensalltag als um Kunstbegriffe.
Geraubte Blicke
Neben den allbekannten Fragestellungen des Urheberrechts existieren beim Fotografieren nach wie vor einige Urängste. Dass ein Porträt mit einem Blick in die Augen der Dargestellten auch Fenster
zur Seele öffnen kann, ist gerade zu Zeiten immer geschickterer Hackerattacken oder eines Film wie Being John Malkovich eine kaum von der Hand zu weisende Furcht. Gleichzeitig erzeugt ein
immer dichter werdendes Netz aus Werbebildern, Soaps, Talkshows, Lifestyle-Accessoires und Personality-Themen jeglicher Art eine verstärkte Wahrnehmung von identifikationsstiftenden
Bildprozessen. Mit dieser gewachsenen Kenntnis geht eine Normung einher, die nahezu jedes Auftreten zu einer gewichtigen Inszenierungsfrage werden lassen kann entsprechendes Lampenfieber mit
eingeschlossen. Sich selbst für ein Porträt einer Art Gegenüberstellung auszusetzen, hat somit auf den ersten Blick eine äußerst mutige Komponente. Künstlerische Experimente gerade mit
fotografischen Porträts hat es immer wieder gegeben; insbesondere die 1970er-Jahre haben diese existenzielle Frage an das fotografische Bildnis in signifikanter Fülle gestellt. Wenn Bildstein und
Glatz das Szenario umkehren und statt dieser wie auch immer gearteten Wiedergabe der Fotografierenden gewissermaßen eine geheime Performance vollziehen, die keiner mitbekommt und die letztlich
nur im Bild überlebt, spielen sie in tückischer Weise mit einem anderen Lieblingskind der Mediengesellschaft, das ebenfalls zu den identifikationsstiftenden Accessoires zählt. Ich war dabei steht
auf T-Shirts unterschiedlichster Art - und das kündet vom Berliner Mauerfall ebenso wie vom legendären 4:1 einiger Nürnberger Fußballspieler gegen den allübermächtigen FC Bayern. Die
Protagonisten der Aktion waren dabei im Bildgasse-Center, und sie haben nichts mitbekommen. Auch wenn ihre Namen in der Präsentation auftauchen, eine konstruktive Wirkung für die Identität hat
allenfalls das Dabei-gewesen-Sein, kaum die fotografische Tat und jedenfalls nicht das Aussehen der eigenen Person. Lediglich der letzte Besucher, der zu spät kam und so den vorgegebenen
Handlungsrahmen sprengte, stellte unwillkürlich einen eigenen Bezug zum Projekt her.
Fallen
Letztlich erfüllt die Aktion des Künstlerduos auch einen Tatbestand, der sie in die Nähe ganz anderer künstlerische Konzeptionen bringt. Fallenbilder hat der Schweizer Daniel Spoerri seine mit Leim fixierten Bilder genannt. Sie zeigten die Relikte von Tischgesellschaften, die im engeren oder weiteren Umfeld von Spoerris Eat-Art stattfanden. Der Begriff ist bewusst mehrdeutig angelegt: der Schwenk der Tischtafel um 90 Grad erzeugt ein Bild, aus dem wären sie nicht so gut fixiert - jederzeit Gegenstände fallen müssten. Andererseits sind die wenig attraktiven Relikte gewiss das Letzte, was vorab die TeilnehmerInnen von Spoerris Tischgesellschaften als bleibendes Produkt angesehen hätten. Unwissend trugen sie zu einem künstlerischen Resultat bei und gingen in eine Art Falle. Im Gegensatz dazu hat die Aktion von Bildstein und Glatz etwas von einer Vetrauensübung aus gruppenpsychologischen Seminaren. Natürlich spielt die Selbsterfahrung seit Platos Höhlengleichnis dabei ebenso eine Rolle wie entsprechende Vergleichsbeispiele aus der jüngeren Kunstgeschichte. Joseph Beuys Aktion l like America and America likes me wäre zu nennen, in der 1974 der Schamane sich in Filz und Fett eingewickelt unmittelbar vom Flughafen zur Aktion begab und anschließend Amerika auch wieder umgehend auf die gleiche Weise verließ oder "Die Reise", eine Aktion, die Jochen Gerz über Tage mit verbundenen Augen durchführte. Der Unterschied zum Parcours von Bildstein und Glatz besteht jedoch in der Beteiligung der Besucher. Und insbesondere ist es die ihnen gestellte Falle.
Sunset Strips
Mit seinen Landschafts-Epiphanien hat 1991 Timm Ulrichs eine wunderbar kurze
Verbindung zwischen der materiellen Beschaffenheit von Film und Sonnenuntergang gezeigt: die ausentwickelten Filmenden von Diafilmen ergaben als Abzüge wunderbare Sonnenuntergangsbilder, eine
Realität im Kopf, die jenseits der Antagonismen wahr oder falsch echte autopoetische Kräfte in uns weckt, schreibt Peter Friese. Nicht erst seit Heinrich Heine stimmt das Thema der langsam
untergehenden Sonne Menschen sentimental - immerhin sieht man mit dem weggehenden Licht deutlich wie kaum sonst das Verstreichen von Zeit. Zudem ist das Ereignis visuell nach wie vor eines der
wirksamsten Schauspiele überhaupt, abstrakt und gleichzeitig hoch emotional. Dass sich ein junges Künstlerduo in diesen optischen Sog begibt, überhöht das heute ohnehin virulente Thema der
Selbstinszenierungen in besonderer Weise. Die 71 Shots von etwas, das zu einem Erlebnisevent, zum großen, starken Film werden könnte, sind gleichzeitig "Gegenschüsse" - filmisch, als
Ereignisevent und als künstlerisches Konzept. Die "72 Shots" lassen Künstler und Publikum die Rollen und die Perspektiven wechseln und konstruieren so ein neues Verhältnis zwischen Identität und
Ausblick, zwischen Lebenswelten und Bildern.
Dr. Johannes Stahl, 2006